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Hier können Sie die PDF des gesamten Erkundungsberichts (inklusive der im Text erwähnten Anlagen) aus der Pfarrei der Zukunft Adenau-Gerolstein herunterladen.
Die vorliegenden Dokumentationen beziehen sich auf die „Pfarrei der Zukunft“, wie sie durch den Prozess der Raumgliederung von 2017-2018 umschrieben wurde.
Nachdem der Bischof das Gesetz zur Umsetzung der Ergebnisse der Diözesansynode von 2013-2016 zurückgenommen hat, wie er in der Pressekonferenz am 20. November 2020 angekündigt hatte, wird dieser Raum nicht als kanonische Pfarrei (nach can 515 cic) errichtet.
Trotzdem werden wir die Bezeichnung „Pfarrei der Zukunft“ in den Erkundungsberichten beibehalten, da dieser Begriff in den vergangenen Jahren ein Arbeitstitel für die neu zu gründenden Räume war. Ebenso wäre es ein sehr hoher redaktioneller Aufwand, dies in den vorliegenden Dokumentationen zu verändern, da der Redaktionsschluss vor den Gesprächen des Bischofs mit der Kleruskongregation und dem päpstlichen Rat für die Gesetzestexte lag.
Die Menschen, die am Keller See ihre Freizeit verbringen, kommen von nah und fern: Es sind einerseits Urlauber aus dem Benelux-Raum, die hier in Ferienwohnungen oder im Feriendorf wohnen, andererseits Tagesausflügler oder Spaziergänger und Jogger aus der näheren Umgebung. Das stellte die Erkundergruppe bei der Befragung von Passanten am See mit Hilfe einer Landkarte und der „Nadelmethode“ fest.
Die Touristen am Keller See – egal ob von weit her oder aus der Nähe – suchen und schätzen vor allem die Ruhe und die Natur, hier kann man es sich vor allem „gut gehen lassen“. Wer etwas Spektakuläres erleben oder viel Neues sehen will, der wählt andere Ziele. Wer hierher kommt, sehnt sich nach einer Auszeit vom Alltag, nach freier Zeit und Entspannung. Das ist ein Hinweis darauf, dass das normale Leben oft geprägt ist durch Belastung, Zeitdruck und (Leistungs-)Pflichten. Gerade Familien mit kleinen Kindern sind sehr belastet. Dass die Kinder hier gut beschäftigt, sind ist für die vielen Familien einer der wichtigen Pluspunkte, denn nur so können auch die Eltern Entspannung finden: „Die Kinder spielen schön, jetzt können auch wir (Eltern) mal ein Eis essen.“
Schon hier, bei unseren ersten Erkundungs-Begegnungen, konnten wir feststellen, dass wir mit guten Fragestellungen schnell auch existentiellere Themen der Gesprächspartner berühren konnten: ihren Sorgen, wie sie sich ein gutes Leben vorstellen, was ihnen Kraft gibt. Eine besondere Situation erlebte eine Mit-Erkunderin, der ein junger Mensch von Selbstmordgedanken erzählte. Natürlich erlebte die Erkunderin sich in dieser Situation als hilflos und wusste nicht, wie sie damit umgehen kann. Die angesprochene Person hatte den See als „Therapie-Ort“ aufgesucht, und jetzt nutzte sie die Gelegenheit, jemandem von sich zu erzählen. Vielleicht kam es genau darauf an.
Hinter den einzelnen Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen zeigte sich uns im Rückblick oft ein gemeinsames Grundmotiv: Im „Zentrum ihres Lebens“ steht für viele die eigene Familie und der private Nahbereich. Hieraus ziehen die Menschen Kraft und Lebensqualität: zusammen mit den Kindern glücklich sein, gut wohnen, gesund bleiben… „Die einfachen Dinge“ eben, wie eine Befragte es ausdrückte.. Dieses „Zentrum“ sehen sie aber auch durch Krankheiten, einen stressigen Beruf oder Geldmangel bedroht. Ein Mann erzählte von der Sorge um die Schwiegereltern, andere von beruflichen Belastungen. Beruf und Geld sind für die meisten eher Mittel als Zweck. Vielleicht fühlen sich vorwiegend Menschen mit einer solchen Wertehierarchie von der eher unspektakulären Atmosphäre des Sees angezogen. Es wäre aufschlussreich, eine ähnliche Befragung an anders geprägten Orten durchzuführen. Allerdings haben wir auch mit einem Menschen gesprochen, der kein anderes Gesprächsthema als sich selbst und seine Erfolge kannte und der genau daraus seinen Lebenssinn zu beziehen schien.
Ansatzpunkte für eine Seelsorge, die an den Bedürfnissen derjenigen orientiert ist, die sich am See aufhalten, haben wir manche gefunden: Lebensthemen wie: „Was (und wer) ist mir wichtig im Leben? Wie „gelingt“ mein Leben? Was fehlt mir und was brauche ich?“ liegen in dieser Situation eher obenauf und können angesprochen werden – freilich in „Formaten“, die der Entspannungs-Situation Rechnung tragen. Beispiele dafür können kleine Impuls-Stationen unterwegs sein, niedrigschwellige Gesprächsgelegenheiten, auch spirituelle Spaziergänge u.a. „Kraft tanken“ als ein Grundbedürfnis der Menschen ist an diesem Freizeitort etwas, das die Kirche unterstützen und dadurch vielleicht zu einer Vertiefung anregen kann: z.B. durch niedrigschwellige Orte von Ruhe und Stille oder auch von Andacht, sicher auch durch (interkonfessionelle) kurze ansprechend gestaltete spirituelle Angebote vor Ort – die natürlich unbedingt „kinder-kompatibel“ sein müssen. A propos Kinder: Kreativ- und Freizeitangebote für Kinder würden vermutlich sehr zur Entlastung der Eltern beitragen.
Bei unseren beiden Gesprächssituationen mit älteren Menschen fiel eine Unterschiedlichkeit deutlich ins Auge: Die eine Gruppe, die wir in einem Café in Thalfang getroffen haben, kann man mit Ausdrücken wie: „persönliches Wohlbefinden, Aktivität, Gesundheit, Mobilität, Pläne“ recht treffend beschreiben. Diese Gruppe nennt man manchmal auch die „Best-Ager“. Auf die Besucher der Tagespflege in Hermeskeil dagegen treffen eher die Begriffe „eingeschränkte Gesundheit, zunehmender Verlust von Selbstständigkeit, Rückgang der Aktivität“ zu – oder, wie es in einem Artikel heißt: „gebrechlich, isoliert, auf Hilfe angewiesen“. Dieser Unterschied wird in der Literatur als der Übergang von der „dritten in die vierte Lebensphase“ beschrieben. Wir konnten diese Bezeichnungen nachvollziehen, sie fasste unsere Wahrnehmungen gut in Worte.
Wenn jemand wirklich zuhört, erzählen alte Menschen gerne und viel aus ihrem Leben, auch sehr persönliche Themen. Das scheint uns eine Gemeinsamkeit der beiden Gruppen zu sein. Erkunderinnen und Erkunder haben das mehrfach erlebt. Schicksalsschläge und Notsituationen kamen zur Sprache, aber auch der Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe in der Familie. Zeit, Aufmerksamkeit und Anteilnahme reichten aus, dass sie sich öffneten. Hier wird das Bedürfnis der alten Menschen spürbar, gesehen und wahrgenommen zu werden. (Tagespflege, Wasgau) Die Erkunderinnen und Erkunder haben sich auch die Frage nach der Einsamkeit alter Menschen gestellt. Das Thema war unterschwellig da, wir hatten aber keine Gelegenheit, es ausdrücklich zu erkunden. Dieses Thema wäre für eine weitere Erkundung sicher lohnend.
Auch dieses Grundbedürfnis ist bei beiden Gruppen im Grunde gleich: Die „Best Ager“ trafen sich täglich in wechselnder Besetzung im Cafe einer Supermarkt-Bäckerei, es ist ein Kommen und Gehen. Sie beschrieben, welchen Stellenwert das Cafe in ihrem Alltag hat: dass sie recht oft kamen, darum auch ganz gut die anderen (ähnlich alten) Besucher kannten, dass man sich über alles Mögliche unterhielt und dass dieser Treffpunkt half, „die Zeit rumzukriegen“. Als ihr Anliegen wird immer wieder „Kontakt zu anderen“ genannt. Und sie beklagten, dass andere Treffpunkte nach und nach weggefallen oder nicht mehr attraktiv seien. Die Besucher der Tagespflege kommen morgens selbstständig oder werden aus einem größeren Einzugsgebiet durch einen Shuttledienst abgeholt – manche jeden Tag, andere nur an zwei oder drei bestimmten Wochentagen. Man trifft immer die gleichen Leute an den jeweiligen Wochentagen und lernt sie kennen. Bis zum Nachmittag verbringen sie den Tag mit Gesprächen beim Essen, kreativen oder geselligen Angeboten. Meist sind die Besucher alleinstehend, erzählten davon, wie wichtig es ist, sich mit anderen unterhalten zu können. Aber selbst wenn sie in eine Familie eingebunden sind, ist ihnen das wichtig. Denn tagsüber seien die Kinder und Enkel meistens bei der Arbeit oder in der Schule. „Im Endeffekt sind wir allein“. Den Kontakt nicht zu verlieren, wurde ausdrücklich als ihr Anliegen bei der Tagespflege betont
Fazit: Was für die einen die Tagespflegeeinrichtung ist, ist für die anderen das Café in der Bäckerei: Anlaufstellen, an denen ältere und alte Menschen (sogar aus einigen Kilometern entfernten Nachbardörfern!) zusammenkommen können – und das ist sehr wichtig.
Als recht unterschiedlich haben wir die Dinge empfunden, die die beiden Gruppen im aktuellen Leben beschäftigen und die sich in ihren unterschiedlichen Gesprächsthemen zeigten: Die mobilen „Best Ager“ sprechen vor allem über das „Hier und Jetzt“, sie stellen sich die Frage, wie sie ihren Lebensabend sinnvoll ausfüllen können. Über frühere Berufstätigkeit wurde z.B. kaum gesprochen, eher die Pläne, die sie aktuell beschäftigen, z.B. die Haltung von Pferden oder das Betreiben eines Weinlokals am Wochenende.
Wenn man dagegen mit den Menschen in der Tagespflege spricht, kommt schnell das Gespräch auf die Vergangenheit. Man erfährt ganze Biografien, hört von einer oft schweren Kindheit, den Aufbaujahren mit Familiengründung, von Berufsarbeit, und sehr oft auch von Schicksalsschlägen. Und dadurch – so war unser Eindruck – erfährt man, wie die Menschen sich und ihren Lebenssinn definieren. Zum Teil haben wir auch ausdrücklich danach gefragt: „Was war das Beste im Leben?“ „Woraus schöpfen Sie Kraft?“
Es war nicht leicht, ein Gespräch mit den Beschäftigten der Caritas-Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Hermeskeil zu organisieren. Die Leitung auf den verschiedenen Ebenen war zwar interessiert, aber auch vorsichtig: Die Situation sei sensibel, und man wollte die Beschäftigten nicht irritieren oder aufwühlen. Darum haben wir auch vorher genau über das Setting gesprochen und unsere Themen und Fragen mit der Leitung abgestimmt. Als das Gespräch dann zu Stande kam, war es für die Mitglieder der Erkundergruppe eine eindrückliche Erfahrung.
Für Menschen mit psychischer Erkrankung ist die Werkstatt ein geschützter Raum. Sie bietet viele Ressourcen, die die Beschäftigten bei der Bewältigung ihres Alltags unterstützen: Wiederkehrende Abläufe sorgen für eine Tagesstruktur. Das nimmt Druck und verleiht Sicherheit. Bezugspersonen und feste Gesprächszeiten sorgen zusätzlich für Stabilität. Auch die Arbeitsplatzgestaltung ist wichtig: Jeder Beschäftigte wird (möglichst) auf jeden Arbeitsplatz in der Werkstatt eingearbeitet. Diese Abwechslung und die Erfolgserlebnisse tragen zur Steigerung des Selbstwertgefühls bei. Dabei ist die Werkstatt nicht etwa eine „beschützende“, sondern produziert für den „ersten Arbeitsmarkt“. Das ist „keine Spielerei“ oder Beschäftigungstherapie, sagt der Leiter. Arbeiten zu dürfen ist für die Beschäftigten sehr wertvoll, die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiger Aspekt von Inklusion und stärkt das Selbstbewusstsein der Beschäftigten. Die Atmosphäre in der Einrichtung finden die Beschäftigten sehr angenehm, man fühle sich getragen und könne mit jedem reden. Doch diese Atmosphäre ist brüchig. Im Vor- und Nachgespräch weisen die Mitarbeiter darauf hin: Die Situation kann von jetzt auf gleich kippen. Das war auch die Befürchtung vor dem Erkundungstermin, und man war froh, dass das Gespräch sehr entspannt, konfliktarm und friedlich verlaufen ist. Auch die Beschäftigten räumen ein: Es gibt schon mal Ärger untereinander, es kann auch mal laut werden.
„Man muss die Arbeit den Menschen anpassen und nicht umgekehrt!“ In der Werkstatt versucht der Leiter der Einrichtung die Arbeitsplätze an den Maschinen so zu gestalten, dass keiner der Beschäftigten überfordert ist. Dazu tüftelt er auch schon mal eigene Erweiterungen für die Maschinen aus. Denn jeder, der Mitarbeiter hat andere Fähigkeiten und Einschränkungen, für jeden Beschäftigten soll eine passende Arbeit gefunden – oder eben geschaffen – werden. Sein Ziel ist, dass jeder viele unterschiedliche Arbeiten machen kann, jeder individuell gefordert wird und in dieser Arbeit Selbstbestätigung erfährt. Diese Haltung des Werkstattleiters hat die Erkunderinnen und Erkunder sehr an den Perspektivwechsel der Synode „Vom einzelnen Menschen her denken“ erinnert. In der Werkstatt wird diese Herausforderung ganz konkret bedacht und realisiert. Das Engagement und die Leidenschaft für seine Aufgabe zugunsten der Menschen, die ihm anvertraut sind, beeindruckten uns.
In dem, was wir über das private Leben der Beschäftigten erfahren, die am Gespräch teilnahmen, werden schnell Konfliktlinien deutlich. Am Einprägsamsten war uns ihr schwieriges Verhältnis zu ihren Familien. Diese Menschen leben allein. Meist gibt es wenig oder keinen Kontakt mehr, Ehen wurden geschieden, Kinder und Geschwister haben sich zurückgezogen, „als ich so krank wurde“. Diese Aussage weist darauf hin, dass es eine Zeit vor der Krankheit gab, und auch eine Zeit des Aushaltens vor der Distanzierung. Sie wirft die Frage nach der Sicht der Angehörigen auf. Was ist schwierig am Zusammenleben mit einem psychisch erkrankten Familienmitglied? Was führt zur Distanzierung? Und: Welche Unterstützung hätte hier vielleicht entlasten können? Die Mitarbeiter bestätigen: Es gibt nur wenige Menschen, die mit einer solchen psychischen Erkrankung von Angehörigen gut umgehen können. Bei den Gesprächspartnern selbst waren hier deutlich Verbitterung und Groll, aber auch Trauer wahrzunehmen. Und die Mitarbeiter ergänzten später: Es gibt sehr stark die Sehnsucht nach einer dauerhaften Beziehung.
Menschen mit psychischer Erkrankung sehen sich Ablehnung und Vorurteilen ausgesetzt. Beschäftigte der Werkstatt erlebten z.B. bei der Fahrt zur Arbeit im Linienbus, wie über sie getuschelt und gelacht wurde und wie sie mit unfreundlichen Worten betitelt wurden. Das kränkt und ärgert die Betroffenen sehr: „Die Leute (Patienten) haben es sich ja nicht ausgesucht.“ Man könne von ihnen nun mal nicht die gleiche Leistung erwarten.
Menschen mit psychischer Erkrankung führen ihren eigenen Haushalt, oft unterstützt durch eine Haushaltshilfe oder eine Betreuerin. Allerdings ist die Verbindung mit dem Leben „da draußen“ schwierig: Es gibt kaum Anlaufpunkten zur Freizeitgestaltung, Teilnahme z.B. am Vereinsleben fällt den Betroffenen schwer Auch die Werkstattmitarbeiter sehen die Verbindung zwischen Werkstatt und Gesellschaft „außen“ als sehr wichtig an – aber zu wenig verwirklicht. Dass hier eine mögliche Rolle auch für kirchliche Gruppen sein könnte wurde ebenso angesprochen.
"Was bewegt und interessiert Jugendliche, welches sind Merkmale ihrer Lebenssituation in Hermeskeil und Umgebung?“ – zu diesem Thema führten wir ein Gespräch mit Jugendpflegern in Hermeskeil. Ein geplantes Gespräch mit Jugendlichen kam leider nicht zustande. Aufschlussreich waren vor allem die Themen „hinter“ dem konkret Berichteten, die sich den Erkundern zeigten.
Auf die Frage nach den liebsten Treffpunkten von Jugendliche antwortet der Jugendpfleger sofort: Wo sie Autonomie und Unabhängigkeit finden. Öffentlich z.B. in Parks, städtischen Plätzen, dem Sportplatz oder der Bushaltestelle, aber sehr oft auch zu Hause bei einem aus der Clique. Dieses Muster von Autonomie und Unabhängigkeit fanden wir auch noch bei anderen Themen des Gesprächs wieder: Zum Beispiel gibt es in jedem Dorf einen selbstorganisierten Jugendtreff. Die Treffen und das „Programm“ liegen vollständig in der Hand der Jugendlichen. Die Begleitungsarbeit des Jugendpflegers zielt darauf ab, vereins ähnliche Strukturen zu bilden, weil man dann ein besseres Standing hat. Ein eigenes Anliegen der Jugendlichen ist das eher nicht, manche sehen aber dann den „Mehrwert“ und wählen z.B. einen Vorstand. Ähnliches wurde berichtet beim Thema Umgang mit Konflikten: Am liebsten lassen sich die Jugendlichen dabei nicht helfen, sondern lösen sie selbst – wie auch immer das dann geschieht. Auch die Beliebtheit der Sozialen Netze passt in diese Wahrnehmung: Von der Grundidee sind das „erwachsenenfreie Räume“, die dem Einfluss und der Sanktion durch Erwachsene weitgehend entzogen sind.
In ihren sozialen Bezügen zeigen sich drei Dinge als besonders wichtig für die Jugendlichen: • Die Zugehörigkeit zur Gleichaltrigengruppe, • der Zusammenhalt in der Familie und • die Identifikation mit dem Heimatdorf. Die hohe Bedeutung der Familie hängt übrigens nicht von „intakten Verhältnissen“ ab, sie gilt genauso in unvollständigen Eineltern-Familien oder Patchwork-Familien oder bei Familien in eher prekären Verhältnissen. Vor allem die Loyalität und der Zusammenhalt nach außen sind dort sehr stark. Als verbindendes Thema dieser drei Dinge könnte man vielleicht das Thema soziale Wärme und Nähe, vielleicht auch „Heimat“ und Zugehörigkeit nennen – die Sozialarbeiterin benutzt dafür den saarländischen Ausdruck „Geheischness“.
Selbstdarstellung, besser: Selbst-Inszenierung in den sozialen Medien und im richtigen Leben ist für Jugendliche ein zentrales Anliegen: Ein modernes Smartphone und bestimmte Markenklamotten gehören einfach dazu, so die Sozialarbeiter. Fast noch wichtiger ist aber das „Profiling“ der eigenen Persönlichkeit in den Netzen, mit genau ausgewählten (oder inszenierten) Fotos und Sprüchen, möglichst vielen „Likes“ und hohen Spielständen bei Online-games. Dafür wenden sie viel Zeit auf – denn hier erleben sie Selbstwirksamkeit, erfahren Anerkennung durch Gleichaltrige, können die eigene Identität „modellieren“. „Die Jugendlichen mobben sich dadurch aber auch selbst“, sagt dazu die Sozialarbeiterin, denn sie machen sich abhängig vom (oberflächlichen) Feedback anderer. Immer wieder hat sie Jugendliche in der Beratung, die durch fehlende Likes oder negative Kommentare in Selbstzweifel – bis hin zu Suizidgedanken – gestürzt werden.
In der konkrete Alltagsgestaltung von Jugendlichen gibt es zwei Tendenzen: Zum einen nehmen sie Teil an einem sehr regen Vereinsleben, in dem vor allem die Sport- und Musikvereine und die Feuerwehren starke und lebendige Jugendabteilungen haben. Oft ist auch hier der lokale Bezug zum Dorf wichtig. Auch die selbstorganisierten Jugendtreffs in den Dörfern sind hier zu nennen. Die andere Seite ist: Die Jugendlichen möchten in der Freizeit am liebsten „abhängen“. Statt zahlreicher Freizeit- und Unterstützungsangebote, die sie wahrnehmen könnten, sind die Erwartungen an die Jugendpflege gering. Sie möchten in Ruhe gelassen werden. Viele Jugendliche empfinden „Freizeitstress“: „Wann sollen wir das denn noch machen…?“ Wir vermuten, dass es bei vielen Jugendlichen beide Tendenzen gleichzeitig gibt: Zeiten und Orte des Engagements und des Abhängens. Aber darüber müssten wir mit den Jugendlichen selbst reden.
Stellenweise war eine Enttäuschung der Jugendpfleger zu spüren, dass viele ihrer geplanten Angebote zu wenig Resonanz finden. Die Angebotszahlen seien rückläufig. Dabei hätten sie gute und wichtige Angebote, z.B. ein „cooler und kostenloser“ Medienworkshop, ein „supertolles“ Waldprojekt „back to the roots“ und anderes. Trotz bester Überlegungen und dem Aufgreifen aktueller Trends und Themen gehen viele Projekte offensichtlich am „Bedarf“ vorbei. „Bedarf“ sei aber auch komplex: Es ist nicht nur das Interesse der Jugendlichen an einem Thema, sondern hängt z.B. auch mit Zeit und Kraft oder der Verkehrsanbindung zusammen, oder damit, ob andere Jugendliche aus dem Dorf mitkommen. Aber wie erfährt man den Bedarf, fragten die Erkunder. Eine direkte Beteiligung von Jugendlichen bei der Themenfindung gäbe es nicht, das geschieht eher im Austausch der Fachleute untereinander. Die Sozialarbeiterin fragt nachdenklich: „Sind das wirklich die Bedarfeder Jugendlichen oder Bedarfe, die wir als Erwachsene sehen?“ Es ist schwer, die eigenen Bedürfnisse und die der Eltern von den Bedürfnissen der Jugendlichen zu unterscheiden. „Klar geäußerter Bedarf ist am besten. Damit kann man was machen!“ sagt der Jugendpfleger. Und berichtet von einer sehr positiven Erfahrung: Der Box- Workshop „Hau Rein“ des Jugendbüros erfreut sich einer sehr guten Resonanz.
Aufgefallen ist uns das Thema „Raum zum Erzählen geben“ zunächst in Gesprächen mit alten Menschen. Die Erfahrung dahinter war: Wenn alte Menschen Gelegenheit und Zeit dazu bekommen, erzählen sie gerne aus ihrem Leben. Wir hatten dabei ein deutliches Gefühl: Das ist wertvoll. Es tut gut, wahrgenommen zu werden.
Wir haben den Eindruck, das Raum-Geben und Zuhören ist ein wichtiger Dienst an den Menschen – mit therapeutischen und seelsorglichen Aspekten: Durch das erzählende Erinnern vergewissert man sich seiner eigenen Identität, seiner Lebensleistung und damit auch seines „Wertes“ – und das in einer Lebensphase, in der es immer weniger Möglichkeiten gibt, das im konkreten Handeln zu erleben. Die zugewandte Zuhörerin vermittelt darüber hinaus Nähe und den Respekt vor der Bedeutung des Erzählten. Theologisch gesprochen vermittelt sie damit eine Ahnung von der Zuwendung Gottes: Du bist wichtig, „ich habe dich in meine Hand geschrieben“. Die Reaktionen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sprachen für sich: Sie öffneten sich, wirkten angeregt und lebendig, zum Teil bedankten sie sich am Ende des Gesprächs. Bestätigt hat sich diese Erfahrung auch bei Gesprächen mit anderen Personengruppen, z.B. psychisch erkrankten Menschen. Wenn die Gesprächssituation stimmte.
Zeit- und Leistungsdruck prägt die heutige Zeit für viele Menschen in Deutschland – das ist eine Binsenweisheit. Solche Menschen, die wir z.B. am Keller See trafen, sehnen sich nach freier Zeit, einer Gelegenheit zum „Auftanken“. Dass aber das Bedürfnis und die Sehnsucht nach „Auftanken“ sehr unterschiedlich aussehen, wurde uns erst auf den zweiten Blick bewusst. Denn das, was Menschen verschiedener Personengruppen belastet, unterscheidet sich stark:
Wir haben unterschiedliche „Orte des Auftankens“ besucht:
So verschieden diese Orte waren, gemeinsam ist ihnen, dass sie kein dauerhafter Aufenthaltsort sind, sondern dass Menschen hier Kraft schöpfen und dann wieder gestärkt in ihr Alltagsleben zurückkehren. Ihr Potential konnten sie teilweise durch natürliche Voraussetzungen entwickeln, mehr aber noch durch bewusste einfühlsame Gestaltung durch engagierte Menschen.
Das Thema erinnert an die Einladung Jesu „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“. Christlich engagierte Menschen können das als Anregung für diakonisches Handeln nehmen. Denn das Bedürfnis nach Orten des Auftankens ist spürbar und die Sehnsucht danach oft nicht gestillt. Doch welche Antwort passt auf diese Sehnsüchte? Das eigene Erleben aktiver Menschen legt vielleicht die Idee nahe, Möglichkeiten zu schaffen, einfach mal „die Seele baumeln“ lassen zu können. Menschen in anderen Situationen brauchen aber womöglich ganz andere „Tankstellen“, um „erquickt“ zu werden. Die Verschiedenheit der Belastungen unterschiedlicher Menschen gut zu verstehen – und dabei wirklich „von ihnen her“ zu denken – wäre dafür ein Schlüssel.
Mehrfach waren Erkunderinnen und Erkunder nach einem Gespräch beeindruckt davon, mit welcher Leidenschaft und Hingabe Menschen für ihre Aufgabe stehen. Nennen möchten wir hier beispielhaft den Leiter der Tagespflege der ABC in Hermeskeil und den Leiter der Caritas-Werkstatt für behinderte Menschen. Bei diesen Persönlichkeiten fiel zunächst ihr hohes Engagement auf, das Brennen für ihre Aufgabe und für die Menschen, mit denen sie zu tun haben. Man hatte das Gefühl: „Hier ist der richtige Mensch am richtigen Platz.“ Darüber hinaus schafften sie es, mit Geschick, langem Atem und Einfühlungsvermögen für die ihnen anvertrauten Menschen einen wohltuenden, unterstützenden und heilenden Ort zu schaffen.
Der Leiter der Caritas-Werkstatt für psychisch kranke Menschen in Hermeskeil ist ein Allrounder: Er ist einerseits sozialarbeiterisch versiert und andererseits bestens mit der Technik, der Funktionsweise seiner Maschinen und den Abläufen in Produktionsprozessen vertraut. Er hat das Ziel, für jeden Werkstattbeschäftigten (individuell?) die bestmögliche Arbeitssituation zu schaffen: entweder durch Anpassung der Maschinen und Arbeitsmittel oder durch die Unterteilung von Arbeitsprozessen in einfache, bei Bedarf auch in ganz kleine Schritte. Seine Aussage „Ich muss die Arbeitsabläufe den Fähigkeiten unserer Beschäftigten anpassen – nicht umgekehrt!“ hat sich bei uns festgehakt: „Vom einzelnen Menschen her denken“ ist doch genau der Perspektivwechsel, den die Trierer Kirche vollziehen möchte. Die Anpassung der Arbeit an die Menschen kann nur gelingen, weil der Werkstattleiter die Beschäftigten gut kennt, ihre Hintergründe, Grenzen und Krankheitsbilder – vor allem aber: ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten. Wie ernst ihm dieses Anliegen ist, sieht man an der Kreativität, mit der er mit seinen Mitarbeitern Lösungen entwickelt, Hilfsapparate baut oder die Arbeitsgeschwindigkeit anpasst. Für die Beschäftigten ist diese Haltung ein Segen. Sie erfahren dadurch Halt und Sicherheit. Die Anpassung der Arbeitsprozesse an ihre Fähigkeiten fördert die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Lebens-Wert.
Menschen „einfach so“ anzusprechen und zu befragen fanden die Mit-Erkunderinnen und Mit-Erkunder besonders schwierig, und auch beim diözesanen Erkundungsteam lösten solche Situationen trotz größerer Übung Herzklopfen aus. Der Umgang mit dieser Herausforderung war bei den Gruppenmitgliedern unterschiedlich: Manche blieben zunächst noch in der Beobachterrolle, andere sprangen schnell ins kalte Wasser – und machten hier vielleicht frustrierende, später aber ermutigende Erfahrungen. Als hilfreich erwies sich die ausführliche gemeinsame Vorbereitung in der Gruppe, z.B. zum Thema: Was wollen wir überhaupt wissen? Wonach möchten wir genau diese Person fragen? Was sind die „richtigen“ bzw. die „wichtigen“ Fragen – und wie formulieren wir sie? Vor dem ersten Kontakt mit Passanten machten wir uns auch viele Gedanken darüber, wie wir in ein solches „unangemeldetes“ Gespräch einsteigen können: Wie stellen wir uns vor? Wie beschreiben wir kurz und verständlich unser Anliegen – und das gegenüber Menschen, die vielleicht nicht gestört werden wollen, kirchenkritisch sind oder nicht verstehen können, wozu wir das wissen wollen? Die Methode der Ortsbegehung dagegen wurde als „Komfortzone“ empfunden, weil man dabei nicht auf Menschen zugehen und sie befragen musste. Auch bei späteren Erkundungs-Begegnungen in Einrichtungen oder mit Fachleuten war die Situation einfacher, weil die Gespräche vorher vereinbart und unser Anliegen bekannt war.
Schon beim ersten Erkunder-Treffen stellten die Mit-Erkunderinnen und Mit-Erkunder in den Übungen fest: Wie das Gespräch läuft, hängt mehr vom eigenen Verhalten ab als von der Bereitschaft des Gegenübers: Es gibt Fragen, die öffnen, und Fragen, die nur einsilbige Antworten bekommen; ich kann das Gespräch im Fluss halten oder es versiegen lassen; ich kann aktiv zuhören oder reserviert wirken usw. Bei den Auswertungen zeigte sich auch, dass dies nicht einfach nur durch das Lernen von Gesprächs-„Techniken“ beeinflusst wird. Entscheidend waren auch innere Haltungen oder Gedanken. Beispielsweise befürchtete eine Person „Vielleicht frage ich zu neugierig.“ – während aber der Gesprächspartner sich mehr Nachfragen gewünscht hätte. Ein „strukturierter“ Fragesteller wurde dagegen als wohltuend empfunden, er gab dem Befragten Sicherheit und das Gespräch lief flüssig. Eine Mit-Erkunderin reflektierte: „Ich frage nicht nach, gehe nicht in die Tiefe“, andere berichteten: Wenn man sich öffnet und in die Tiefe geht, macht das mein Gegenüber auch.
Der Austausch in der Miterkunder-Gruppe war für das Lernen entscheidend. Was die inhaltlichen Erkenntnisse betraf, so war die Gruppe der Ort wo die Wahrnehmungen aus den Erkundungs-Begegnungen zusammengetragen und dokumentiert wurden. Zum Einüben der Erkunder-Haltung und -Praxis waren die Reflexionen in der Gruppe der entscheidende Lernort. Hier war auch der Ort, wo das Anliegen und der Nutzen der Erkundung und ihr Bezug zur Umsetzung der Synodenergebnisse immer wieder diskutiert wurden.
Der Vorgang des Erkundens, wenn er von echtem Zuhören geleitet ist, löste bei den Erkunderinnen und Erkundern etwas aus. Sie werden angerührt von der Lebenssituation und den Sichtweisen des anderen. Sie erzählten davon, dass sie die Gespräche „noch ein paar Tage mit sich tragen“, sogar, dass sie die Menschen und Gespräche mit ins Gebet genommen haben. Und über das persönliche Berührt-Sein hinaus konnten sie einen Wechsel der Perspektive vollziehen: Man versteht auf eine ganz andere Weise aus zuvor etwas von Menschen, wenn man nicht „über“ sie spricht, sondern „mit“ ihnen. Gerade wenn es Menschen sind, mit denen man wenig oder nicht im Kontakt ist, wenn man dabei – wie ein Beteiligter es ausgedrückt hat – „seine Komfortzone verlässt.“
„In der Erkundung fragen wir nicht nach Kirche!“ so zugespitzt formulierte Thomas Ascher eine Erkundungs- Regel, vielmehr fragen wir nach den Lebensumständen der Menschen. Natürlich blieb das zunächst bei den Miterkundenden nicht unwidersprochen: Wir sollten die Räte fragen, was in ihrer Gemeinde läuft – um so Anregungen zu bekommen. Die Menschen danach fragen, warum sie auf Distanz zur Kirche gehen oder was Kirche für die anbieten könnte. Wir sollten ehemalige Ehrenamtliche fragen, warum sie sich damals engagiert haben jetzt aber nicht mehr. Was braucht es, damit ehrenamtlich Engagierte (wieder) mitmachen? Schließlich solle die Erkundung ja „auch was bringen“. Was nützt eine „zweckfreie“ Erkundung? Was können wir damit anfangen?
Thomas Ascher: „Immer mehr habe ich verstanden, dass es bei der Erkundung als erstes darum geht, dass ich bereit bin, mich berühren und verändern zu lassen: Meinen Horizont, meine Sichtweisen, mein Urteil über Menschen. Das geschah immer dann, wenn ich mich auf (neue) Begegnungen eingelassen habe. Und dazu musste ich selbst rausgehen, Ausflüge ins Unbekannte machen. Ein bisschen Herzklopfen gehörte immer dazu. „Man kann sich bei der Erkundung nicht vertreten lassen,“ wie eine Mit-Erkunderin es formulierte.“
Andreas Esch: „Auf die Begegnung kommt es an! Möchte ich vom einzelnen Menschen her denken – so wie die Bistumssynode es gesagt und grundgelegt hat – so muss ich wissen, womit dieser Mensch befasst ist, was ihn in seinem Leben umtreibt. Um das zu erfahren, muss ich zuerst einmal Kontakt zu der mir fremden Person aufnehmen. Das ist nicht leicht! Es erfordert Mühe und Mut, das sichere Setting, meine Ansichten und Gepflogenheiten beiseite zu schieben und mich einer fremden Person und ihrer Situation auszusetzen – Ausgang ungewiss! Miterkunderinnen und Miterkunder berichten von offenen Türen, gesprächsbereiten Menschen und sogar von echter Dankbarkeit für ihr Interesse und ihre Zeit. Für sie hat sich der Mut gelohnt! Ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen das „Experiment Erkundung“ wagen.“
Sabine Lord: "Ich bin als Interessierte gestartet und als Veränderte zurückgekehrt“, dieses Zitat, das ich neulich in einem Reisebericht gelesen habe, hat mich direkt an unsere Erkundung erinnert. Viele Erkunder haben das so beschrieben und auch ich persönlich habe das so erfahren: Viele Eindrücke, nette Begegnungen, neue Welten….man merkt auf einmal, wie eng doch oft die eigene Sichtweise ist. Es macht Spaß, weil es den Horizont erweitert und neue Ideen zulässt."